Ideale. Entwürfe einer „besseren Welt" in der Wissenschaft, Kunst und Kultur des 20. Jahrhunderts

Ideale. Entwürfe einer „besseren Welt" in der Wissenschaft, Kunst und Kultur des 20. Jahrhunderts

Organisatoren
Christina Herkommer, Freie Universität Berlin; Elke Frietsch, Kunsthistorisches Institut, Universität Wien
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.07.2009 - 18.07.2009
Url der Konferenzwebsite
Von
Sigrid Stöckel, Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin, Medizinische Hochschule Hannover

Ausgerichtet von der Soziologin Christina Herkommer (Freie Universität Berlin) und der Kunsthistorikerin Elke Frietsch (Universität Wien) fand am 17. und 18. Juli an der Freien Universität Berlin die Tagung zum Thema „Ideale. Entwürfe einer ‚besseren Welt‘ in der Wissenschaft, Kunst und Kultur des 20. Jahrhunderts“ statt. Der thematische und inhaltliche Fokus lag entsprechend der Disziplinen der Veranstalterinnen auf den politischen und sozialen Bewegungen des 20. Jahrhunderts: auf „Konstruktionen“, die von totalitären Konzepten bis zu deren kritischer Hinterfragung reichten und Solidaritätsentwürfen oder ihrem Gegenteil, die den Ausschluss nicht erwünschter Denkweisen und gesellschaftlicher Gruppen, umfassten. Neben der Thematisierung dieser Ambivalenzen von Idealen standen ihre „Repräsentationen“ in Kunst, Wissenschaft und Literatur im Fokus.

Entsprechend vielfältig waren die ausgewählten Vorträge, die sowohl die Repräsentationen von Idealen als auch ihre sozialen und politischen Inhalte thematisierten. Unter der Moderation von Christina Herkommer begann die Tagung mit einem kunsthistorischen Beitrag von NOEMI SMOLIK (Kunsthochschule Alanus, Bonn) über die Genealogie der Kritik der Moderne am Beispiel des russischen Malers Malewitsch. In seinem Werk machte sie nicht das Ideal der Moderne oder Abstraktion aus, sondern ihre Zusammenführung mit den Gestaltungselementen und dem Bilderwissen der Ikone. Damit zielten seine Gemälde – so Noemi Smolik – auf eine Vermittlung von Wissenschaft und Religion, die der politischen Situation Russlands nach der kulturellen Öffnung in Folge der Bauernbefreiung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsprach. Sehr früh habe Malewitsch damit eine Kritik an der Moderne formuliert.

Der zweite Beitrag von PETRA SCHAPER-RINKEL (Austrian Institute of Technology, Wien) war auf die Konstruktion und Dekonstruktion von Zukunft gerichtet. Sie stellte dar, dass die Szenarien und Ideale in der Zukunftsforschung vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die 1970er-Jahre sich auf politische Utopien bezogen, die ihren Ausgangspunkt in der Reflexion der jeweils aktuellen Herrschaftssituation hatten. Seither richtet sich Zukunftsforschung oder aktuell „Foresight“ auf die Analyse von Trends, aus denen mehr oder weniger wahrscheinliche Entwicklungen abgeleitet werden. Diese Forschung produziert Hypothesen über die Dynamik gegenwärtiger Entwicklung. Ideale, so die These, werden entsprechend als Prozessqualitäten formuliert, deren Ziel gesellschaftlich verantwortungsvolles und partizipatives Handeln (Governance) ist. Dieser Beitrag zeigte die Wandlungsfähigkeit der Struktur wie auch des semantischen Gehalts von Idealen.

Die nächsten beiden Beiträge thematisierten Orte als Repräsentationen von Idealen. ALEXANDER VON LÜNEN (University of Portsmouth) untersuchte in diesem Kontext die Planung von Städten unter der Meeresoberfläche in den 1950er-Jahren und verglich das Vordringen in das Innere der Meere mit der gleichzeitig vorangetriebenen Weltraumforschung. Beide Räume waren unbekannt und bis dahin unerreichbar, das Meer jedoch ein mythologischer, in seiner Tiefe unheimlicher Ort. Seine Erforschung und Transparentmachung erfolgte in Dokumentar- und Spielfilmen, die Planungen von Unterwasserstädten waren Beispiele für das Ideal technischer Machbarkeit und folgten einer entsprechenden Ästhetik. ANDREAS RUMPFHUBER, der als Architekt in Wien arbeitet, wandte sich dagegen mit der Konzipierung von Bürolandschaften am Beispiel der Bertelsmann-Tochtergesellschaft Bild und Ton ganz realen Räumen zu. In ihnen sollten Arbeitsabläufe effizient gestaltet und durchrationalisiert werden. Gleichzeitig ging es darum, eine ideale Arbeitswelt zu schaffen, die flexibel veränderbar sein und möglichst wenig hierarchische Elemente aufweisen sollte. Rumpfhuber interpretierte die von der Bertelsmann-Tochtergesellschaft „Bild und Ton“ erstmals umgesetzte Planung als „politische Hypothese“, die eine hierarchielose, selbst organisierte und gleichzeitig kontrollierbare Arbeitsform versprach. Die Bürolandschaft stand für eine ‚ideale Gemeinschaft’ als Arbeitsgesellschaft.

Unter dem Titel „Architektur als Therapie“ untersuchte ELKE FRIETSCH die 1907 in der Landesheil- und Pflegeanstalt Am Steinhof in Wien von Otto Wagner für die Insassen errichtete Kirche. Kunsthistorisch bedeutsam als Beispiel des Wiener Jugendstils, war sie von Wagner als Bau geplant, der die „Macht der Vernunft“ über die „Irrationalität der Geisteskrankheit“ demonstrieren sollte. Dazu gestaltete er das sakrale Bauwerk nach hygienischen Gesichtspunkten so, dass es die Unangepasstheit der Insassen einerseits auffing, andererseits ihr symbolisch etwas entgegensetzte. Mit dieser architektonischen Doppelstrategie sollte die Integration der Pfleglinge in die Gottesdienste ermöglicht werden. Mit einer eigenen Formsprache, die über die Jugendstil-Ästhetik hinausging und sie verfremdete, schuf Wagner seiner Kreativität Freiräume und Rückzugsorte, die durch den „Wahnsinn“ der Anstaltsinsassen legitimiert wurden.

Eine Reihe von Beiträgen stellten den Körper unter den Aspekten Leistung, Ästhetik und Geschlecht in den Mittelpunkt. JÖRG SCHELLER (Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft, Zürich) zeichnete die Entwicklung der Körperideale vom „Leistungsleib“ und der Ästhetik der Kraft und Stärke über die utopistisch-kollektivistischen Körperbilder des Faschismus nach und beobachtete für die individualistisch ausgerichtete Postmoderne, dass der Ästhetik mehr Wert beigemessen werde als der Leistung. Im Ideal „Performativer Körper“, wie es von Arnold Schwarzenegger oder Michael Jackson illustriert wird, tritt die Leistung in den Dienst der Ästhetik.

RAMÓN REICHERT (Kunstuniversität Linz) widmete sich der Geschlechterordnung im US-amerikanischen Aufklärungsfilm der 1950er-Jahre. Anhand von einzelnen Filmszenen führte er vor, wie das Konzept der „Sex Education for Youths“ oder „sexual guidance“ als spezifischer Ausdruck mentaler Hygiene im Film ungesetzt wurde und anstelle sexueller Phantasie die „Faktizität“ sozialer Rollen trat.

WIEBKE LISNER (Medizinische Hochschule Hannover) erweiterte die Betrachtung der leistungsorientierten Gestaltbarkeit des Körpers um die politische Ebene der Macht und Unterwerfung unter eine Herrschaftsdiktatur, indem sie die im Nationalsozialismus durchgeführten Fleckfieberversuche an KZ-Insassen und Krankenhauspatienten darstellte. Das von ihr herausgearbeitete Ideal war nicht nur der „gesunde, leistungsstarke Volkskörper“, für dessen Wohlergehen andere Personengruppen ihr Leben lassen sollten, sondern auch das Ideal der Wissenschaft, das im Diskurs der Fachmedien aufrechterhalten wurde und die Versuche legitimierte. NICOLA HILLE (Universität Tübingen) stellte dagegen die soziale Utopie des sozialistischen „neuen Menschen" vor, der quasi als „Halbfabrikat“ vorlag und mit einer perfektionierten Biologie und einer neuer Psyche ausgestattet werden sollte. Als Bezugspunkte dieses Ideals machte sie sowohl mythologische Idealtypen (Prometheus) wie auch zeitgenössische Wissenschaft (Pavlows Zielreflex) aus.

Gegen Ende der Tagung standen zwei Beiträge zu konzeptionellen Idealen und ein weiteres Beispiel eines als Repräsentation eines Ideals vorgestellten Ortes: CHRISTIANE FÜLSCHER (Universität Stuttgart) führte am Dresdner Kulturpalast den symbolischen Gehalt eines sozialistischen Zweck- und Repräsentativbaus vor, der durch Glasfassaden Transparenz und Partizipation signalisierte und zum Vorbild sozialistischer kommunikativer Gemeinschaftszentren wurde. SABINE FASTERT (Technische Universität Berlin) analysierte die (verlorene, erstrebte) ‚Mitte‘ in Kunst und Kultur nach 1945 hinsichtlich ihrer konservativen Bezüge und rief dazu auf, die Konservatismen zu differenzieren. DOROTHEE WIMMER (Freie Universität Berlin) lenkte die Aufmerksamkeit auf das neue Menschenbild in der französischen Kunst und Philosophie um 1960, das die Ideale bewusster Vernunft dekonstruierte und durch hierarchielose Netzwerke ersetzte. Damit war der Wechsel von Bewusstsein und Freiheit zum unbewussten, heterogenen Ich vollzogen, in dem Energien anstelle von Materie die entscheidenden Kräfte waren und das (nur) performativ herzustellen war. Hier wie auch in dem Beitrag von CHRISTINA HERKOMMER über die Veränderung der Solidaritätsentwürfe in der neuen Frauenbewegung und im Postfeminismus wurden nicht nur Transformationen, sondern regelrechte Brüche von Menschenbildern und Idealen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich.

Insgesamt wurde das Phänomen der Ideale in der angekündigten vielfältigen Ausrichtung beleuchtet. Als Konstrukt wie auch als De-Konstrukt erwies es sich als aussagekräftige Antriebsfeder für gesellschaftliche, politische, mentale und künstlerische Veränderungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in deren Verlauf ‚das Ideal’ in vielen untersuchten Beispielen irritierender Weise selbst an innerer Kohärenz verlor. Eine Diskussion über diese Beobachtung steht zurzeit noch aus. Wünschenswert wäre, wenn die Veranstalterinnen sie in dem bereits angekündigten Tagungsband beginnen würden.

Konferenzübersicht:

Einführung (Elke Frietsch/ Christina Herkommer)

Moderation: Christina Herkommer (Freie Universität Berlin)

Noemi Smolik (Kunsthochschule Alanus, Bonn): Zur Genealogie der Kritik der Moderne oder: Malewitsch ist nie modern gewesen

Petra Schaper-Rinkel (Austrian Institute of Technology, Wien): Konstruktion und Dekonstruktion von Zukunft: Szenarien in Zukunftsforschung und Foresight

Moderation: Jan Rohgalf (Universität Rostock)

Alexander von Lünen (University of Portsmouth): Zurück ins Meer - Eine bessere Welt im ‚inneren Weltraum'?

Andreas Rumpfhuber (Architekt, Wien): Die Bürolandschaft: Produktion einer ‚idealen Gemeinschaft’ als Arbeitsgesellschaft

Moderation: Jutta Weber (Staatliche Museen zu Berlin)

Elke Frietsch (Universität Wien): Architektur als Therapie. Otto Wagners Kirche am Steinhof (1907) und die 'Niederösterreichischen Landesheil- und Pflegeanstalten', Wien

Jörg Scheller (Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft, Zürich): Die Leib-Avantgarde. Von der Genese des modernen Idealkörpers aus der Kulturkritik

Ramón Reichert (Kunstuniversität Linz): Geschlechterordnung im Aufklärungsfilm der 1950er-Jahre

Moderation: Birgit Kirchmayr (Johannes Kepler Universität Linz)

Wiebke Lisner (Medizinische Hochschule Hannover): Vom Ideal des gesunden, leistungsstarken ‚Volkskörpers'. Fachzeitschriften als Medien zur Legitimation medizinischer Praxis 1939-1945

Nicola Hille (Universität Tübingen): Das Ideal des Neuen Menschen: Entwürfe und Utopien einer ‚besseren Welt' in der Kunst der frühen Sowjetunion

Moderation: Sylvia Necker (Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg)

Sabine Fastert (Technische Universität Berlin): Das Ideal der ‚Mitte' in Kunst und Kultur nach 1945

Christiane Fülscher (Universität Stuttgart): Der Dresdner Kulturpalast als Vermittler der sozialistischen Ideologie in der DDR

Moderation: Elke Frietsch (Universität Wien)

Dorothee Wimmer (Freie Universität Berlin): Jenseits der Aufklärung. Das neue Menschenbild in der französischen Kunst und Philosophie um 1960

Christina Herkommer (Freie Universität Berlin): Solidaritätsentwürfe in der neuen Frauenbewegung und Ideale im Postfeminismus